Hören

Fußball-EM: Gehör mitverantwortlich für Fan-Euphorie

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Zwei junge Frauen jubeln im Fußballstadion
Jacob Ammentorp Lund / Adobe Stock

Mit Beginn der Fußball-Europameisterschaft fahren die Emotionen wieder Achterbahn. Das Gehör ist daran nicht ganz unbeteiligt. Zudem muss es im Stadion oder beim Public Viewing mit turbulenten Lautstärkeschwankungen umgehen.

Wer Tickets für die Fußball-EM ergattert hat, wird sich schon bald mit Zehntausenden anderen Fans in einem Stadion wiederfinden. Die Lautstärke ist oft enorm. Das liegt zum einen daran, dass viele Stadien dem Idealbild des engen, steilen und lauten „Hexenkessels“ entsprechen. Dies wird durch eine architektonische Anordnung der Gebäudeteile erreicht, die dafür sorgt, dass die durch das Publikum erzeugte Atmosphäre verdichtet wird. Die Nachhallzeit ist in Stadien sehr hoch, d.h. der Hall wirkt lange nach und sorgt für eine beachtliche Geräuschkulisse.

Schallpegel fährt Achterbahn 

Das Hörakustikunternehmen GEERS hat am 18. Mai beim letzten Heimspiel der Saison 2023/2024 von Borussia Dortmund eine Schallpegel-Messung durchgeführt. Im mit 81.365 Fans besetzten SIGNAL IDUNA PARK hatte sich bereits bis zum Anpfiff eine Lautstärke von bis zu 110 dB aufgebaut. Ab Spielbeginn folgte ein Auf und Ab der Emotionen und Geräusche, das beim ersten Tor einen Schallpegel von 117 dB erreichte. Dies entspricht der Lautstärke eines Rockkonzertes. Zur Halbzeitpause hin wurde es etwas leiser, so als müssten auch die Fans verschnaufen.

In der zweiten Halbzeit trieben Emotionswellen die Lautstärke immer wieder auf über 100 dB. Ausschlaggebend waren Torchancen, gelbe Karten und Freistöße.  Vor Spannungsmomenten konnte man hören, wie die Fans den Atem anhielten. Die Lautstärke nahm deutlich ab. Die durchschnittliche Geräuschkulisse über die gesamte Spieldauer betrug 100 dB, vergleichbar mit der Lautstärke einer vorbeifahrenden U-Bahn.

Klänge erzeugen Emotionen

Unser Gehör und unser Gehirn sind eng verknüpft. Dies hilft uns, unsere Umgebung zu verstehen, soziale Bindungen zu stärken und auf potenzielle Gefahren zu reagieren. Die dafür verantwortliche Gehirn-Region, der auditorische Kortex, verarbeitet dabei die einzelnen Reize einer Geräuschkulisse und interpretiert die akustischen Informationen in Verbindung mit dem limbischen System. Das führt zu emotionalen Reaktionen, erklärt Professor Stefan Launer, Leiter der Grundlagenforschung bei der Sonova AG, einem weltweit tätigen Anbieter von innovativen Lösungen rund um das Thema Hören. „Welche Emotionen in uns durch Klänge erzeugt werden, bestimmt ein Zusammenspiel aus Lautstärke, Tonfall und Rhythmus. Diese können uns mitreißen und motivieren, aber auch zornig und wütend stimmen. Beim Fußball wird das am besten bei einem Tor oder einem Foul sichtbar. Bestimmte Rhythmen und Melodien aktivieren das Belohnungssystem im Gehirn und werden dadurch positiv interpretiert. Bedrohliche Geräusche können schnelle emotionale Reaktionen auslösen, die evolutionär wichtig für das Überleben sind“, erläutert Launer.

Fußball-Fangesänge haben meist ein hohes Tempo von bis zu 120 Beats per minute (BPM). Das hat reale körperliche Auswirkungen: Es regt an und synchronisiert den menschlichen Herzschlag auf einen Puls von 120. „Der Körper gerät unterbewusst in Aufregung und die Fans können nicht anders als zu jubeln, zu klatschen, zu springen. Ähnlich wie bei einem Popsong, zu dem man unvermittelt tanzen muss, oder, als Gegenbeispiel, bei einem Schlaflied für Kinder mit nur etwa 60 bis 80 Beats pro Minute“, erklärt Launer weiter. Ein Beispiel für einen Song, der genau 120 BPM hat, ist „Girls Just Want to Have Fun” von Cyndi Lauper.

Der 12. Mann

Besonders nachdrücklich wirkt ein Hörerlebnis, wenn es gemeinsam erlebt und geteilt wird, denn Synchronizität steht für die Stärke einer Gruppe. So weist ein koordinierter Rhythmus darauf hin, wie gut eine Gruppe aufeinander abgestimmt ist. Je besser die Abstimmung ist, desto mehr Stärke demonstriert eine Gruppe und wirkt somit einschüchternder auf die Gegner. Die Fans werden also aus gutem Grund als „12. Mann“ bezeichnet.

Die vermeintlich banalen Hintergrundgeräusche im Stadion sind bei genauerer Betrachtung nichts weniger als das Feuer, das die Fan-Herzen zum Brennen bringt. Und das Gehör ist nicht ganz unschuldig daran.